Glossar
WIRTSCHAFT UND ARBEIT

Plattformökonomie

INHALT

Definition und Abgrenzung

Plattformen werden häufig gemäß ihrer Rolle als Intermediäre in zweiseitigen oder mehrseitigen Märkten definiert. Nach Hagiu & Wright vermittelt eine mehrseitige Plattform direkte Interaktionen zwischen Parteien auf mehreren Marktseiten [1]. Das heißt, die jeweiligen Parteien behalten „die Kontrolle über die wichtigsten Bedingungen der Interaktion“ (S. 163). Zudem sind die Parteien auf den jeweiligen Marktseiten mit der Plattform affiliert, das heißt, sie tätigen plattformspezifische Investitionen, die für die Teilnahme an Transaktionen mit der anderen Seite erforderlich sind. Diese Merkmale wiederum führen regelmäßig zu indirekten und wechselseitigen Netzwerkeffekten, einem weiteren definierenden Charakteristikum von Plattformen: Der Wert der Plattform für Parteien auf einer Marktseite wächst in der Regel je größer die Anzahl der teilnehmenden Parteien auf der anderen Marktseite [2–4]. Die Preisgestaltung auf den verschiedenen Marktseiten ist damit für die Gesamtzahl an Interaktionen und Transaktionen entscheidend [3]. Plattformen fungieren daher häufig als Matchmaker zwischen Parteien auf verschiedenen Marktseiten. Die genannten Charakteristika erlauben die Abgrenzung von Plattformen gegenüber Wiederverkäufern („Reseller“) und vertikal integrierten Unternehmen (die Produkte oder Dienstleistungen als Vorleistungsprodukt selbst erwerben). Es existieren darüber hinaus weitere Plattformdefinitionen, die z. B. direkt auf Plattformökosysteme, bestehend zum einen aus Kernkomponenten und zum anderen aus einer Reihe von komplementären Gütern und Dienstleistungen, abstellen (siehe z. B. [5]).

Geschichte

Plattformen als mehrseitige Märkte finden sich auch in der Offlinewelt. So können beispielsweise Zeitungen als vermittelnde Intermediäre zwischen Lesern und Werbeschaltenden betrachtet werden, bei denen eine größere Anzahl an Lesern weitere Werbetreibende anzieht. In der Digitalen Ökonomie und insbesondere in der Internetwirtschaft haben Internetplattformen jedoch eine herausragende wirtschaftliche und gesellschaftliche Rolle erlangt. So verfolgen die fünf wertvollsten börsennotierten Unternehmen der Welt (Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet und Facebook, gemäß Marktkapitalisierung, Stand 31.03.2021) Plattformgeschäftsmodelle [6–7].

Anwendung und Beispiele

Plattformen existieren in vielfältiger Form und in unterschiedlichen Märkten. Bekannte digitale Plattformen sind zum Beispiel Internetsuchmaschinen wie Google Search. Internetnutzer treffen auf dieser Plattform auf Webseitenbetreiber und Werbetreibende. Der Wert für Internetnutzer ergibt sich insbesondere dadurch, dass sie relevante Webseiten mit geringen Suchkosten auffinden können. Die Sortierung und Anzeige von Suchergebnissen stellt somit eine der wichtigsten Aufgaben einer Suchplattform dar. Je größer die Zahl der Suchenden, desto größer der Wert von Webseitenbetreibern und Werbetreibenden, auf dieser Plattform gelistet zu sein.

App Stores auf mobilen Betriebssystemen für Smartphones wie Apple iOS und Google Android sind ein weiteres Beispiel für digitale Plattformen. Je größer die Anzahl der Nutzer des jeweiligen App Stores bzw. Betriebssystems, desto attraktiver wird diese Plattform für App-Entwickler. Die Anzahl und Qualität der verfügbaren Applikationen bestimmt wiederum den Nutzen des Betriebssystems für Endnutzer und ist mittlerweile für viele Nutzer entscheidendes Kriterium bei der Anschaffung eines Smartphones. Die Mehrheit der Endnutzer benutzt dabei in der Regel nur ein Smartphone und Betriebssystem (sogenanntes Single-Homing). Viele App-Entwickler sind hingegen auf mehreren Plattformen (insbesondere Android und iOS) aktiv (sogenanntes Multi-Homing).

Elektronische Dating-Plattformen wie Tinder und Parship vermitteln zwischen Partnersuchenden. Die unterschiedliche Preisgestaltung für Männer und Frauen auf solchen Plattformen (vgl. auch die klassische „Ladies Night“) wird häufig als Beispiel für die Auswirkungen unterschiedlich stark ausgeprägter Netzwerkeffekte angeführt. So ist es auf Plattformen durchaus möglich, dass für eine Seite negative Preise gelten, deren Teilnahme also durch eine monetäre Vergütung oder einen nicht monetären Anreiz gefördert wird.

Peer-to-Peer-Plattformen oder Sharing-Plattformen wie z. B. AirBnB oder BlaBlaCar erlauben die geteilte Nutzung von Ressourcen. Durch die Koordination von Angebot und Nachfrage mittels digitaler Technologien sowie Qualitätssicherungsmechanismen ermöglichen solche digitalen Plattformen eine effizientere Nutzung von Ressourcen wie z. B. Wohnraum oder Transportkapazitäten.

Kritik und Probleme​​

Plattformgeschäftsmodelle haben zahlreiche digitale Innovationen hervorgebracht und ermöglicht. Zudem haben sie durch die Verringerung von Transaktionskosten und bessere Koordination viele Märkte effizienter gemacht. Erst auf Grundlage des Plattformmodells sind viele elektronische Märkte überhaupt erst möglich geworden. Mit der wachsenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung nimmt jedoch auch die Kritik an der Stellung und Bedeutung einzelner globaler Plattformen zu. So nehmen heute viele digitale Plattformen in ihren Kernmärkten eine dominante und marktbeherrschende Stellung ein. Die durch direkte und indirekte Netzwerkeffekte getriebene „Winner-takes-all“-Dynamik in digitalen Plattformmärkten führt dabei häufig zu Märkten mit hoher Marktkonzentration bei der nur wenige oder sogar nur ein Unternehmen als Plattformbetreiber überdauern [8, 9]. In diesem Kontext wird insbesondere diskutiert, ob Märkte langfristig noch bestreitbar sind ( „Competition for the market“) und Innovation neue Wettbewerber hervorbringen kann. Weitere Wettbewerbsprobleme werden insbesondere für die Fälle diskutiert, bei denen eine Plattform eine duale Rolle einnimmt und neben der Rolle als Intermediär selbst auch auf einer der Marktseiten Dienste oder Inhalte anbietet. So ist Amazon beispielsweise auch auf dem Amazon Marketplace aktiv und konkurriert somit in einigen Marktsegmenten mit Dritthändlern. Hier werden insbesondere die Möglichkeit der Plattform, zusätzliche Daten und Informationen über affilierte Parteien zu sammeln, sowie die mögliche Diskriminierung bei der Vermittlung von Interaktionen und Transaktionen („biased intermediation“) als potenziell problematisch angesehen. Neben Wettbewerbsproblemen wird in Anbetracht der großen (globalen) Nutzerbasis auch die besondere Gatekeeper-Rolle für Informationen und Interaktionen diskutiert. Insbesondere mit Blick auf Social-Media-Plattformen stellen sich hier z. B. Fragen nach dem Umgang mit Hatespeech und Missinformationen sowie dem Einfluss der Plattformen auf die politische Meinungsbildung.

In der Europäischen Union werden derzeit zwei große Gesetzespakete zur Regulierung von Plattformen beraten, die von der Europäischen Kommission initiiert wurden: Der „Digital Services Act“ und der „Digital Markets Act“.

Forschung und weiterführende Literatur

Am bidt wird in zahlreichen Projekten zu digitalen Plattformen und zur Plattformökonomie geforscht:

An der Universität Passau fand unter Mitwirkung der Nachwuchsforschungsgruppe Data Policies im Sommersemester (SS 2021) eine öffentliche Ringvorlesung zum Thema „Digital Platform Ecosystems“ mit führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Plattformforschung aus verschiedenen Disziplinen statt.

Im abgeschlossenen Projekt „Geschäftsmodelle datengetriebener Start-ups und ihre Positionierung entlang der Wertschöpfungskette“ wurde untersucht, welche Geschäftsmodelle und Strategien digitale Start-ups verfolgen. Es hat sich gezeigt, dass sich die Herangehensweise datengetriebener Start-ups von anderen Start-ups auf verschiedene Weisen unterscheiden, was Implikationen für GründerInnen und ManagerInnen anderer Unternehmen hat.

AUTOR
Dr. Daniel Schnurr

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2021-07-28T17:55:48+02:00
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