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MEINUNGSMACHT

PUBLIC-SERVICE-ONLINEANGEBOTE UND
„INTERNETSPEZIFISCHE GESTALTUNGSMITTEL“

Valerie Rhein
Stephan Dreyer

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk unterliegt dem gesetzlichen Auftrag der Vielfaltsgewährleistung; doch wie ist es darum bestellt, wenn auf den Onlineplattformen algorithmische Verfahren und softwarebasierte Selektionen Einfluss auf die Vermittlung der Inhalte nehmen. Das Projekt „Coding Public Value“ widmet sich der Frage, wie der regulatorische Rahmen für solche Technologien aussehen kann.

2. Juni 2021

Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten bieten neben den klassischen Radio- und Fernsehprogrammen viele Inhalte auch online an, beispielsweise in ihren Mediatheken. Unabhängig von ihrem Verbreitungsweg müssen sich alle diese Angebote am gesetzlichen Auftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks orientieren: durch die Herstellung und Verbreitung ihrer Angebote als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und so die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen (§ 26 Abs. 1 S. 1 MStV). Übergeordnetes verfassungsrechtliches Ziel ist es, durch Vielfaltsgewährleistungen den öffentlichen Kommunikationsprozess so zu stimulieren, dass er stets der Nährboden für die freie individuelle und öffentliche Meinungsbildung ist, derer es für das demokratische Gesamtgefüge bedarf. Der gesetzliche Programmauftrag ist so durch das Verfassungsrecht stark vorstrukturiert.

Seit 2009 sieht der Gesetzgeber über den allgemeinen Rundfunkprogrammauftrag hinaus einen weiteren, onlinespezifischen Auftrag im Rundfunkstaatsvertrag vor, der die Rundfunkanstalten ermächtigt und verpflichtet, auch sogenannte telemediale Inhalte anzubieten. Im aktuellen Medienstaatsvertrag sieht der gesetzliche Rahmen diesen telemedienbezogenen Auftrag (§ 30 MStV), der eine Reihe an besonderen inhaltlichen Anforderungen enthält (§ 30 Abs. 3, 4 MStV), weiter vor.

Der Drei-Stufen-Test für Telemedienangebote

Über die konkrete Ausgestaltung solcher Telemedien entscheidet allerdings nicht unmittelbar der Gesetzgeber, sondern die jeweilige Rundfunkanstalt unter Berücksichtigung der groben gesetzlichen Vorgaben selbst. Bevor neue oder stark geänderte Telemedienangebote online gehen, durchläuft ein geplantes Angebot zunächst ein Prüfverfahren – den sogenannten Drei-Stufen-Test (vgl. § 32 Abs. 4 bis 7 MStV). Findet dieses Prüfverfahren einen positiven Abschluss, darf die Rundfunkanstalt das neue Onlineangebot umsetzen und kann dafür entsprechende Mittel vom Rundfunkbeitrag aufwenden.

Beurteilungsgrundlage für das dreistufige Prüfverfahren ist ein sogenanntes „Telemedienkonzept“ (§ 32 MStV). In diesem beschreibt die Rundfunkanstalt die Charakteristika des Angebots und erklärt, auf welche Weise dies zum gesetzlichen öffentlich-rechtlichen Auftrag beitragen wird. Der MStV macht dabei konkrete Vorgaben, welche Aspekte das Telemedienkonzept zu berücksichtigen hat: Mit Blick auf die Erfüllung des Programmauftrags soll es Aussagen dazu enthalten, „inwieweit das neue Telemedienangebot […] den demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnissen der Gesellschaft entspricht“, „in welchem Umfang durch das neue Telemedienangebot […] in qualitativer Hinsicht zum publizistischen Wettbewerb beigetragen wird“ und „welcher finanzielle Aufwand für das neue Telemedienangebot […] erforderlich ist“ (§ 32 Abs. 4 MStV). Zu den weiteren Informationen, die ein Telemedienkonzept enthalten muss, gehören neben der inhaltlichen Ausrichtung auch die Angabe der Zielgruppe, des Inhalts, der Ausrichtung und der Verweildauer sowie Angaben zum Ansatz des Ausschlusses presseähnlicher Angebote und zur „Verwendung internetspezifischer Gestaltungsmittel“.

Internetspezifische Gestaltungsmittel und softwarebasierte Ordnungslogiken

Der Begriff dieser „internetspezifischen Gestaltungsmittel“ ist spannend, weil es damit seit 2019 eine Anforderung an die Telemedienkonzepte gibt, die nicht weiter definiert ist, aber das Zeug zu einem (kleinen) Paradigmenwechsel bei der Konkretisierung des öffentlich-rechtlichen Programmauftrags im Netz haben kann. Nach der gesetzlichen Begründung soll mit dem neuen Begriff zum Ausdruck gebracht werden, „dass die öffentlich-rechtlichen Telemedienangebote dynamisch an die technische Entwicklung im Internet angepasst werden können und sollen. In Betracht kommt eine Vielzahl spezifischer Darstellungsformen, wie z. B. multimediale Darstellung, Unterstützungen durch Suchvorschläge, Verlinkungen, Live-Aktualisierung, Animationen, Individualisierungen und Personalisierungen, zeitsouveräne Nutzung von Medieninhalten und andere Möglichkeiten der Video- und Audionutzung, Audiodeskription, Untertitelung oder interaktive Elemente.“

Diese Auflistung ist bemerkenswert, weil sie zum ersten Mal nicht nur an programmliche Inhalte und Darstellungsformen anknüpft, sondern auch Aspekte der Inhalteaggregation, -selektion und -priorisierung anspricht, z. B. Empfehlungen oder Methoden der Individualisierung und Personalisierung. Damit nimmt der Gesetzgeber Bezug auf softwarebasierte Ordnungslogiken des Angebots. Das erste Telemedienkonzept nach Inkrafttreten des 22. Rundfunkänderungsstaatsvertrags war das „ZDF-Telemedienänderungskonzept (2019–2020)“ aus dem August 2019, das die neue gesetzliche Anforderung an die Darstellung auch der internetspezifischen Gestaltungsmittel umzusetzen hatte. Und bereits dieses Telemedienkonzept zeigt, welche neue Perspektive und Innovationskraft die Vorgabe entfalten kann: So spricht das ZDF-Telemedienkonzept davon, dass jegliche Personalisierung das „öffentlich-rechtliche Gebot ausgewogener thematischer Vielfalt (Diversität) aus Information, Bildung, Kultur und Unterhaltung“ berücksichtige und bestätigt, dass zu „den Fragen der algorithmischen Personalisierung und Empfehlung […] der Fernsehrat unterrichtet“ wurde (17 f.). Dieser Komplex sei ein „fortlaufender, sich ständig weiter entwickelnder Prozess“ (18).

Selektionsverfahren und Vielfaltsgewährleistung

Für die Rundfunkanstalten folgt insoweit aus der Anforderung, die internetspezifischen Gestaltungselemente in Telemedienkonzepten darzulegen, eine Pflicht der Konkretisierung des vieldimensionalen Programmauftrags an die öffentlich-rechtlichen Angebote mit Blick auch auf softwarebasierte Automatisierungsverfahren und algorithmische Selektionsentscheidungen. Das ist nicht trivial, waren die klassischen Programmaufträge doch in erster Linie als programminhaltliche Anforderungen gedacht. Die Vorgabe bietet aber die Chance für die Anstalten insgesamt – für ihre Aufsichtsgremien und für die Redaktionen und SoftwareentwicklerInnen in den Häusern –, die erweiterte Auftragslogik auch für Softwareinfrastrukturen und algorithmische Selektionsverfahren mitzudenken und zu übersetzen.

Auch das Bundesverfassungsgericht hat in einer seiner jüngeren Rundfunkentscheidungen deutlich herausgestellt, dass im Rahmen der Online-Inhaltevermittlung auf Medienplattformen genutzte algorithmische Verfahren Einfluss auf den kommunikativen Prozess haben (1 BvR 1675/16 (77 ff.)). Softwarebasierte Selektionen können dem Ziel der Vielfaltsgewährleistung also zuträglich sein – oder diesem entgegenstehen, beispielsweise beim Nutzen kommerzieller Selektionslogiken. Der verfassungsrechtliche Funktionsauftrag spiegelt sich insoweit auch in den internetspezifischen Gestaltungsmitteln ab und verpflichtet so die Rundfunkanstalten, den Einsatz von inhaltebezogenen Selektionslogiken in ihren Onlineangeboten am Ziel der Vielfaltsgewährleistung auszurichten.

Das Projekt „Coding Public Value“

Das vom bidt geförderte Projekt „Coding Public Value“, an dem unter anderem das Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut mit seiner juristischen Expertise beteiligt ist, identifiziert und analysiert solche rechtlichen Anforderungen sowie die gesellschaftlichen und stakeholderseitigen Erwartungen an öffentlich-rechtliche Software, etwa im Bereich von Suchfunktionen, Empfehlungssystemen und automatischen Inhaltefiltern. Durch Interviews, Dokumentenanalysen und gemeinsame Workshops soll das Forschungsprojekt im engen Austausch mit Rundfunkanstalten und Stakeholdergruppen Optionen für die zukünftige Konkretisierung und Umsetzung von softwarebezogenem „Public Value“ aufzeigen, die gegebenenfalls in zukünftigen Telemedienkonzepten aufgegriffen werden könnten. In Kürze erscheint ein erstes Arbeitspapier, das eine Analyse des regulatorischen Rahmens für solche Technologien darstellt und erste Vorschläge anführt, wie diese künftig unter Berücksichtigung verschiedener an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gestellter Anforderungen ausgestaltet werden können.

Die vom bidt veröffentlichten Blogbeiträge geben die Ansichten der Autorinnen und Autoren wieder; sie spiegeln nicht die Haltung des Instituts als Ganzes wider.

Valerie Rhein

Valerie Rhein ist wissenschaftliche Referentin in der Abteilung Forschung sowie als junior researcher am Leibniz-Institut für Medienforschung | Hans-Bredow-Institut assoziiert und seit Juli 2020 Doktorandin im Projekt „Coding Public Value“ des bidt. Ihr Interesse gilt insbesondere der Schnittstelle zwischen öffentlichem Recht, Digitalisierung und Kommunikation, weshalb sie sich ehrenamtlich für netzpolitische, freiheitsrechtliche und egalitäre Belange einsetzt.

Dr. Stephan Dreyer

Stephan Dreyer ist Senior Researcher für Medienrecht und Media Governance am Leibniz-Institut für Medienforschung │ Hans-Bredow-Institut (HBI). Das Forschungsinteresse des Juristen gilt den regulatorischen Aspekten medienvermittelter Kommunikation in einer datafizierten Gesellschaft; er analysiert Herausforderungen, denen sich rechtliche Steuerung angesichts neuer Technologien, Angebotsstrukturen und Nutzungspraktiken gegenüber sieht.

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