Forschung
MEINUNGSMACHT

Programmieren für die Nach-Rundfunkzeit

Die Digitalisierung stellt öffentlich-rechtliche Medienangebote vor viele Herausforderungen gleichzeitig. Wie diese, zumindest teilweise, zu bewältigen sind, erforscht der Soziologe Jan-Hendrik Passoth in einem interdisziplinären bidt-Projekt über „gemeinwohlorientierte Softwareentwicklung“.

Mädchen beim Zappen vor einem Fernseher. Foto: stock.adobe.com/Anton

(Foto: Anton – stock.adobe.com)

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F reitagabend, auf der Couch. Doch noch die letzte Folge The Crown oder eine andere Serie aus dem Adel? Netflix schlägt beides vor. Und bietet zusätzlich eine Essensdoku an, weil man vor zwei Wochen eine Stunde einem Profikoch zugeschaut hat. Heute aber steht der Sinn nach Information, also mal auf ard.de gucken. Dort die Vorschläge: Beethoven oder ein Beitrag über Whistleblower. Seriös, interessant, aber kaum auf die Bedürfnisse zugeschnitten. Zuletzt hat man Tagesschau und Tatort gesehen. Warum wird nicht das Angebot an Tagesthemen und Krimis angezeigt, die einen ebenso interessieren könnten?

Mit dieser Frage und ihren Konsequenzen setzt sich Jan-Hendrik Passoth auseinander. Er ist Professor für Techniksoziologie an der European New School of Digital Studies der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und forscht im bidt-Projekt „Coding Public Value: Gemeinwohlorientierte Software für öffentlich-rechtliche Medienplattformen“.

Jan-Hendrik Passoth denkt im Großen über die kleine Frage nach, die sich eingangs gestellt hat: Wie können öffentlich-rechtliche Medien ihren Zuschauerinnen und Zuschauern passende Inhalte anbieten – und dafür sorgen, dass sie im besten Fall noch etwas lernen, das sie zu mündigen Bürgerinnen und Bürgern macht? Passoths Antwort lautet: gemeinwohlorientierte Softwareentwicklung. Was nach einem komplexen Begriff klingt, ist ein spannender Forschungsbereich mit hoher Relevanz für demokratische Gesellschaften.

An öffentlich-rechtliche Medien werden spezielle, gemeinwohlorientierte Anforderungen gestellt. Keiner weiß so genau, was diese Anforderungen im digitalen Kontext bedeuten.

Prof. Jan-Hendrik Passoth

Passoth befasst sich seit vielen Jahren damit, welche politischen Probleme durch neue technologische Entwicklungen entstehen. Er hat schon mehrere Projekte mit öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten durchgeführt oder, wie er es mit einem Augenzwinkern ausdrückt, mit „alten Institutionen, die im Digitalen gefangen sind in ihrem Regularienkorsett“. Der Soziologe sagt: „An öffentlich-rechtliche Medien werden spezielle, gemeinwohlorientierte Anforderungen gestellt.“ Denen nachzukommen ist schwieriger geworden, denn: „Keiner weiß so genau, was diese Anforderungen im digitalen Kontext bedeuten.“

Deshalb lautet die Forschungsfrage im bidt-Projekt, das Jan-Hendrik Passoth zusammen mit dem Kommunikationswissenschaftler Professor Hans-Bernd Brosius von der LMU, Professor Wolfgang Schulz vom Leibniz‐Institut für Medienforschung in Hamburg und dem empirischen Softwaretechniker Professor Daniel Mendez vom Blekinge Institute of Technology in Schweden und der fortiss GmbH in München durchführt: Was müsste man tun, schon bei der Entwicklung von Software, damit öffentlich-rechtliche Sender ihr Angebot an die digitale Moderne anpassen können?

Zum Projekt Coding Public Value

Wandel durchs Internet

Um zu verstehen, warum das Thema wichtig ist, hilft ein Blick in die Mediengeschichte. Die Aufgabe der öffentlich-rechtlichen Anstalten ist im Medienstaatsvertrag (früher: Rundfunkstaatsvertrag) geregelt, dort wird diese in so schönen Worten definiert wie: „als Medium und Faktor des Prozesses freier individueller und öffentlicher Meinungsbildung zu wirken und dadurch die demokratischen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse der Gesellschaft zu erfüllen“.

Über Jahrzehnte wurde versucht, dies über die Gestaltung des Programms zu lösen. Die Anstalten hatten eine Quasimonopolstellung: Lief ein Tatort über einen rassistisch motivierten Mord, war nicht nur sicher, dass Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer einschalteten. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass die eine oder der andere an einer anschließenden Dokumentation über Rassismus dranblieb, war hoch.

Ein erster Bruch mit diesen Selbstverständlichkeiten kam mit den Privatsendern in den 1980er-Jahren. Damals bekamen die Öffentlich-Rechtlichen eine verführerisch bunte Konkurrenz.

Der wirkliche Wandel aber kam mit dem Internet: Mit Onlineangeboten wie YouTube, Netflix, Amazon Prime, Hulu und Disney+ bekamen die Anstalten nicht nur mehr Konkurrenz mit passgenauerem Angebot für jede Zielgruppe. Sondern das Internet zerstörte auch die Linearität. Das heißt: Wer den Tatort per Stream am Dienstag schaut, wird nicht mehr direkt danach noch zur Doku gelockt.

Neue Hilfsmittel für die digitale Welt

Für öffentlich-rechtliche Sender ergeben sich daraus Probleme: Sie müssen sowohl ihre Ziele genauer definieren als auch den Weg, wie sie diese erreichen können. Wie schaffen sie es, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht nur ihr Angebot wählen, sondern nach der Tagesschau den Spielfilm schauen und danach eine Doku, die ihr politisches Weltbild möglichst nicht nur bestätigt? Und wie setzen sie das so um, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht genervt abschalten?

Bisher, sagt Passoth, sei oft nur vorgegeben, was man nicht wolle, etwa „bloß kein polarisierendes System wie die großen Plattformen“. Aber „wie man das anders macht, ist relativ wenig ausdefiniert“. Dabei gehen theoretische wie praktische Fragen ineinander über. „Die ganze Mediengeschichte ist zum Beispiel voll vom Versuch, den Begriff Vielfalt zu definieren“, sagt Passoth zur Illustration.

Solche Fragen verursachen für diejenigen, die die Programme schreiben, ganz praktische Probleme: Soll nach dem Porträt über Robert Habeck die Doku über die Geschichte der Grünen-Partei kommen? Oder lieber, zum Ausgleich, ein Rückblick auf Franz Josef Strauß?

Prof. Jan-Hendrik Passoth, bidt-Projekt Coding Public Value. Foto: Sebastian Pape

Früher, sagt der Soziologe Jan-Hendrik Passoth, habe man versucht, die Anforderungen an den Rundfunk durch institutionelle Formen zu lösen. „Jetzt müssen wir sie in technische Formen gießen.“

(Foto: Sebastian Pape)

Passoth und das Projektteam aus SoftwareingenieurInnen, MedienrechtlerInnen und KommunikationswissenschaftlerInnen haben sich vorgenommen, „Hilfsmittel dafür zu liefern, die Anforderungen durch den Medienstaatsvertrag in einer digitalen Umgebung umzusetzen“. Derzeit werden qualitative Interviews vorbereitet, mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus den Forschungsabteilungen der Sender sowie denjenigen, die beispielsweise die Software bauen, auf der die einzelnen Mediatheken basieren. Es wird darum gehen, wie sie arbeiten, vor welchen Problemen sie praktisch stehen. Bei den Sendern sei man sehr offen, sagt Passoth. Vor allem auf der Ebene derjenigen, die die Software bauen, merke man, dass sie „täglich mit diesen Ansprüchen arbeiten und kämpfen“.

Wenn man den Auftrag in digitale Zeiten übersetzen würde, müsste man viel weiter weg von den eigentlichen Rundfunkprinzipien, viel mehr in Nicht-Linearität denken, über die Rekonfiguration von Inhalten und Personalisierung, um in einer Nach-Rundfunkzeit eine Rolle zu spielen.

Prof. Jan-Hendrik Passoth

Wie die Methoden und Hilfsmittel für die Rundfunkmitarbeiterinnen und -mitarbeiter aussehen könnten, wird in den nächsten zwei Jahren erarbeitet. „Wenn man den Auftrag in digitale Zeiten übersetzen würde, müsste man viel weiter weg von den eigentlichen Rundfunkprinzipien, viel mehr in Nicht-Linearität denken, über die Rekonfiguration von Inhalten und Personalisierung, um in einer Nach-Rundfunkzeit eine Rolle zu spielen“, sagt Passoth. Er kann sich Vorschläge vorstellen, wie man ein Aufsichtsgremium für algorithmische Systeme besetzen müsste. Oder Richtlinien, wie man vorhandene Inhalte anders klassifizieren könnte, damit sie passender ausgespielt werden können.

Auch die Entwicklung von Softwarewerkzeugen in einer späteren Projektphase ist angedacht. „Je mehr wir davon zusammentragen, desto erfolgreicher ist das Projekt“, sagt er.

Dass das Thema dringlich ist, zeigt ein Blick in aktuelle Schlagzeilen. Zerschlagung von Facebook, Streit um die Rundfunkgebühren – wer wann was konsumiert, spielt eine Rolle für das Miteinander und die Entscheidungsfindung in demokratischen Gesellschaften. Dies zu begleiten, ist eine der aktuellen Herausforderungen des digitalen Wandels. Dazu wollen Passoth und das Projektteam einen Beitrag leisten. Dadurch wird es vielleicht nicht wahrscheinlicher, dass ARD, ZDF und Co. gegen Instagram und YouTube ankommen. Aber immerhin wird dafür womöglich manchen Zuschauerinnen und Zuschauern, die sonst nur royale Serien anschauen, auch eine Dokumentation über die Kolonialvergangenheit der Monarchien angezeigt.

Von Lea Hampel

25. Januar 2021

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